Die Kunst der vagen Drohung

Warum Transparenz nicht immer zielführend ist

Die Nato ist beim Ukraine-Krieg sehr darauf bedacht, gegenüber Russland ein Höchstmass an Transparenz zu wahren. Sekundiert wird sie dabei durch Äusserungen von politischen Verantwortungsträgern in Europa und den USA. Ihnen gemein ist, dass Putin jeweils weiss, was der Westen militärisch alles nicht zu tun gedenkt. Er wiederum ist ein Meister der vagen Drohung. Das Problem: Während der Westen rote Linien zieht, nutzt der Kreml die damit verbundenen Freiräume skrupellos aus.

Es ist dieser Tage oft die Rede davon, dass Putin den Informationskrieg in der Ukraine bereits verloren habe. Kommunikativ mag das stimmen – Präsident Selenski und die Brüder Klitschko punkten im Fernduell auf allen Kanälen und im Minutentakt gegen den Aggressor aus dem Kreml. Ihre Auftritte sind medial glänzend inszeniert: In Tarngrün und Jeans sprechen Männer im besten Alter empathisch und engagiert in die Kamera, zeigen sich vor Bombenkratern Seite an Seite mit der eigenen Bevölkerung im existenziellen Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung. Das wirkt und ist authentisch, aber natürlich ist es auch ein Instrument, die Stimmung im eigenen Land und ausserhalb der Heimat zu beeinflussen.

Der starke Mann im Kreml dagegen ist kaum mehr zu sehen, und wenn doch, als Karikatur seiner selbst. Da sitzt der Präsident des flächenmässig grössten Landes der Welt allein am Kopfende absurd langer Tische in absurd grossen Räumen vor absurd leeren Rängen. Draussen vor dem Kreml wird derweil eine junge Demonstrantin von schwarz gekleideten Spezialkräften abgeführt, weil sie für wenige Sekunden ein handgeschriebenes A-4-Plakat «No War» hochgehalten hat.

«Wir sind eine Atommacht»

Das ist meinungsbildend und macht in Kombination mit immer neuen Aufnahmen zerschossener russischer Panzer und einer immer grösseren wirtschaftlichen Isolation Russlands glauben, Putin verliere auch den richtigen Krieg. Man mag darauf hoffen, sicher ist es trotz des tapferen Widerstands der Ukrainer nicht. Wer wie der Kreml-Führer nicht davor zurückschreckt, Abertausende von jungen Wehrpflichtigen aus Sibirien ohne ausreichend Essen, Trinken, Munition und Diesel in die Schlacht gegen ein Brudervolk zu schicken, und wer mit Cruise Missiles und Clusterbomben ganze Wohnquartiere in Trümmer schiessen lässt, der will keinen Frieden.

Für Putin spricht überdies, dass er eine kommunikative Dimension weiterhin meisterlich beherrscht: Die der vagen Drohung. Das klingt dann etwa so: «Waffenlieferungen erachten wir als legitimes Ziel. Die Nationen, die uns mit Sanktionen belegen, müssen mit Gegenmassnahmen rechnen. Und wer es vergessen haben sollte: Wir – Russland – sind eine Atommacht.»

Der Westen gibt sich verbal verbindlicher. «Jeder Inch des Nato-Territoriums wird verteidigt», bekräftigt in Washington Joe Biden, um dann gebetsmühlenartig zu wiederholen, es werde kein amerikanischer Soldat für die Ukraine in den Krieg ziehen. Auch eine Flugverbotszone über der Ukraine soll es nicht geben. «Wir wollen keinen dritten Weltkrieg provozieren», begründet Deutschlands Aussenministerin Baerbock stellvertretend für viele die Ablehnung.

Das sind klare Signale an die russische Seite, dass die Nato keine Eskalation sucht. Und sie sollen die eigene Bevölkerung beruhigen, die angesichts der nur wenige Fahrstunden entfernt wütenden Zerstörung kein weiteres Ausgreifen des Krieges will.

Der Westen bleibt zu berechenbar

Dagegen hat Putin ein leichtes Spiel – er spricht, es wird. Vielleicht so, vielleicht anders. Rechenschaft schuldet der Diktator, den man politisch korrekt angeblich noch immer als Autokraten bezeichnen soll, schon länger niemandem mehr. Das macht ihn unberechenbar, und genau das nutzt er schamlos aus. Er handelt rational, indem er uns Irrationales androht.

Der Westen reagiert darauf auffallend zurückhaltend. Die Devise lautet, sich ja nicht provozieren zu lassen. Die Nato schafft Klarheit durch Transparenz, sie zieht einige rote Linien, die sicherstellen sollen, dass der Kreml keine Falschannahmen trifft.

Was aber, wenn das gegen Putin gar nicht zielführend ist?

Was wäre eigentlich, wenn Europa nicht immer gleich sagt, was es nicht tun wird, auch militärisch? Wenn zum Beispiel eine Flugverbotszone nicht von vornherein ausgeschlossen würde, weil sie der Diktion Putins folgend den dritten Weltkrieg auslösen könnte? Sondern die Allianz vielmehr verkünden würde, grundsätzlich keine Massnahmen auszuschliessen, wenn sie dem Schutz der Zivilbevölkerung dient?

Was wäre, wenn nicht bis auf die Seriennummer der einzelnen Strela-Flugabwehrraketen aus ehemaligen DDR-Beständen jeweils mitgeteilt würde, welche und wie viele Waffensysteme an die Ukraine geliefert werden und wie hoch deren Einsatzbereitschaft ist?

Derzeit weiss Putin haargenau, was der Westen tut oder vielmehr nicht tun wird. Er weiss, dass der Himmel über der Ukraine nicht gesperrt wird; er weiss, dass die Nato nicht direkt intervenieren wird; er weiss, dass die EU auf die absehbare Überforderung durch die grösste Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gut vorbereitet ist. Und er kennt auch die Wirkungskraft einer Strela. Sie wurde in der Sowjetunion entwickelt.

Wunderbar, wird er sich denken, dann lasst uns nach Mariupol auch Kiew, Lwiw und Odessa in Schutt und Asche legen, weitere Abertausende in die Flucht treiben, die Schwarzmeerküste erobern – das sind alles Dinge, die keine der roten Linien des Westens ritzen.

So kann Putin Tag für Tag das Schlachtfeld für sich abstecken, seine Drohungen wirken, der Westen bleibt berechenbar.

Den Preis bezahlen die Ukrainer

Pluralistische Gesellschaften sind vielstimmig, politische Verantwortungsträger müssen Rücksichten nehmen auf unterschiedliche Meinungen und Haltungen. Das schränkt ein. Und doch wären sie gut beraten, das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Putin zu verunsichern, seine Pläne immer wieder zu durchkreuzen.

Gelungen ist dies erfreulich rasch bei der politischen und wirtschaftlichen Isolation Russlands. Militärisch jedoch hat der Kreml noch immer das Sagen – auch, weil er seinen Handlungsspielraum relativ risikoarm ausnutzen kann. Die Transparenz der Nato hat einen Preis.

Diesen bezahlen derzeit die Ukrainer. Werden sie niedergerungen, hat Putin zwar die Schlacht um die mediale Präsenz verloren, aber den Krieg gewonnen. Selenski wäre dann nur noch ein tragischer Held. Und Europa stärker bedroht denn je.

KMES Partner | Markus Spillmann