Gastbeitrag: Wenn die Angst vor dem Volk die Mittel heiligt

Reflexion nach dem deutlichen Ja zur AHV-Steuervorlage
von Daniel Eckmann

Zu einer Abstimmungsanalyse gehört auch die demokratiepolitische Dimension. Bei der AHV-Steuervorlage vom 19. Mai 2019 liegt ein eindeutiges Resultat vor – klar. Zweideutiger ist die Frage, wie weit die Politik die Abstimmungsfreiheit fallweise einschränken darf. Denn das war es, was dem Volk vorgelegt wurde: eine Einschränkung der freien Willensäusserung. Es geht hier nicht darum, die überaus deutliche Annahme des Pakets in Frage zu stellen. Es geht um Überlegungen mit Blick auf künftige Vorlagen und auf das, was in guten Treuen als Kompromiss verkauft werden kann – und was nicht. Dabei geht es um Grundsätzliches und auch um das, was niemanden zu interessieren scheint – nämlich um Rechtliches.

Taktik und Staatsrecht

Bei Abstimmungen zu zwei Geschäften ohne inneren Zusammenhang, gibt es in einer direkten Demokratie vier Möglichkeiten: zweimal Ja, zweimal Nein, Ja - Nein oder Nein - Ja. Wenn das Parlament nach diversen Einzelniederlagen zwei grundverschiedene Vorlagen zum Zweck der Verhinderung weiterer separater Urnengänge einfach in eine Schicksalsgemeinschaft packt, so verunmöglicht es in rein abstimmungstaktischer Absicht differenzierte Willensäusserungen. Ein tiefer Griff in die Trickkiste, also. Wie gesagt, da stellen sich schon Grundsatzfragen. Denn die Demokratie lebt von der Einhaltung ihrer Spielregeln.

Taktisch war das Paket offensichtlich ein Erfolg. Rechtfertigt das nun den weiteren Gebrauch solcher Kniffe? Alle jubeln, auch wenn die Zweckallianz von links und rechts bereits am Abend nach der Abstimmung schon wieder auseinanderbrach, alle ihre eigene Version der Resultat-Deutung präsentierten und sich ohne rot zu werden sogleich von der Sicht der Partner distanzierten. Beide Lager gaben von sich, dass eigentlich das Gegenteil gemeint sei und man deshalb selbentags zur Politik der diametral auseinanderlaufenden Wege zurückkehre. Der Kompromiss war also nicht auf Dauer angelegt. Es ging um eine kurzfristige Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg zu je anderen Zielen. Dass mit dem Schutzschild „AHV“ dessen Probleme nicht einmal ansatzweise gelöst werden, zeigt sich schon daran, dass keine zwei Monate später schon wieder eine neue Reform aufgegleist wurde. Und doch wird das (eigentlich durchsichtige) Spiel mit „Kompromiss“ genannten Mogelpackungen wohl Schule machen. Schon hört man, dass künftige fortan Reformen ohne sachfremde Kompensationen kaum mehr möglich sein werden. So hat ein Ständerat gesagt, Kuhhändel seien der Inbegriff der Demokratie. Das muss man sich auf der Zunge vergehen lassen... Und für den Bundespräsidenten ist OK, wenn das Volk es anders sieht als die Juristen. Wenn dies das rechtsstaatliche Verständnis ist, steht das Rezept: Abstimmungen gewinnt man mit Zwickmühlen, selbst wenn das Bundesgericht diese mehrfach als verfassungswidrig erklärt hat.

Andere bluten für Demokratie

Dem Paket kann man Pragmatismus sagen. Aber darum geht es einen staatspolitischen Stock höher nicht. Dort geht es um die Bedeutung der demokratischen Rechte. Ihretwegen gab und gibt es Revolutionen und Kriege, ihretwegen wurde eingesperrt und hingerichtet, ihretwegen wird gekämpft und geblutet. Wir haben sie. Demokratische Rechte gehören zu den ausserordentlichsten Errungenschaften der Schweiz. Das ist so selbstverständlich geworden, dass die Politik hierzulande immer gedankenloser, salopper und verächtlicher damit umgeht. Da sind ein paar grundsätzliche Überlegungen schon die Mühe wert. Deshalb dieser Beitrag.

Der vergessene Verfassungsartikel 34 Abs. 2

Aber der Reihe nach: Zuerst zum Prinzip der "Einheit der Materie", womit auch der Grundsatz von Treu und Glauben zu verbinden ist (vgl. Art. 5 BV: Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben). Gefordert ist loyales Verhalten, untersagt ist widersprüchliches, missbräuchliches oder täuschendes Verhalten. Ausdrücklich zur Lektüre empfohlen seien auch die eineinhalb Zeilen des Verfassungsartikels 34 Abs. 2 zu den politischen Rechten: „Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe.“ Spätestens an diesen Grundsatz ist definitiv auch der Gesetzgeber gebunden. Sollte man wenigstens meinen.

Die Einheit der Materie

Viele, die im Paket keine Kollision mit der Einheit der Materie sehen, berufen sich auf Professor Andreas Kley. Laut ihm – sagen sie- gelte die Einheit der Materie nur für Verfassungs- und nicht auch für Gesetzesvorlagen (was Kley selber zwar so gar nicht sagt, sondern nur durchblicken lässt, dass dieses Prinzip laut ihm politisch verhandelbar sei). Aber er ist zum kommoden Kronzeugen für die absolute Version geworden und wird munter zitiert. Andere Staatsrechtler mit entgegengesetzter Meinung werden im öffentlichen und veröffentlichten Diskurs überhört oder nicht einbezogen. Rechtliche Argumente gelten als langweiliger als politische Behauptungen. Das mag sein. Aber darum geht es bei verantwortungsbewusster Betrachtung nicht. Es geht um höherrangige Güter, als um die mediale Sexyness eines Themas.

Zur Einheit der Materie sind drei Passagen aus dem Bundesgerichtsentscheids BGE 129 I 366 (also aus dem Jahr 2003) aufschlussreich. Dazu sei festgehalten, dass der Entscheid eine ganz andere (Zürcher) Sache betraf. Aber das spielt ausdrücklich keine Rolle, weil das Bundesgericht in den zitierten Erwägungen seine grundsätzliche Praxis zusammenfasst. Die drei Punkte stellen also unabhängig vom Einzelfall die Auslegeordnung des höchsten Gerichts zur Einheit der Materie dar. Sie sind somit der für diese Frage richtungsweisende Referenzrahmen, auf den sich das Bundesgericht stützt, wenn es sich mit einem wie auch immer mit der Einheit der Materie zusammenhängenden Aspekt befasst. Aber zurück zum BGE 129 I 366:

Erwägung 2.1. "Das unter der Herrschaft der alten Bundesverfassung als ungeschriebenes Verfassungsrecht gewährleistete Stimm- und Wahlrecht räumte dem Bürger allgemein den Anspruch ein, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. (...) "Sinon le citoyen, qui est favorable à l'un des projets, est obligé ou de le repousser pour manifester son opposition à l'autre ou de l'accepter, mais en faisant croire alors par son vote qu'il appuie le second." (... ).

Erwägung 2.2. „Der Grundsatz der Einheit der Materie verlangt, dass zwei oder mehrere Sachfragen und Materien nicht in einer Art und Weise miteinander zu einer einzigen Abstimmungsvorlage verbunden werden, die die Stimmberechtigten in eine Zwangslage versetzen und ihnen keine freie Wahl zwischen den einzelnen Teilen belassen. (... ) Dieser Zielrichtung entsprechend ist der Grundsatz der Einheit der Materie bei allen Vorlagen zu beachten, die den Stimmberechtigten zum Entscheid unterbreitet werden. Grundsätzlich ist es daher unerheblich, ob es sich um eine Initiative oder Behördenvorlage, um Partial- oder Totalrevisionen von Verfassungen oder Gesetzen oder um Gesetzes- oder Finanzvorlagen handelt (... ).“

Erwägung 2.3. „(...). Ausschlaggebend ist der sachliche innere Zusammenhang der einzelnen Teile einer Vorlage. (...) Es wird gefordert, dass eine bestimmte oder die nämliche Materie betroffen werde, dass zwischen den Teilen ein "rapport intrinsèque étroit avec le même but" bestehe (...), und dass der sachliche Zusammenhang nicht bloss künstlich, subjektiv oder rein politisch bestehe (...).“ 


Das alles sind Zitate aus den grundsätzlichen Erwägungen des Bundesgerichts. Eine klarere Formulierung ist schwer vorstellbar. Sie finden sich auch in Lehrbüchern und Verfassungskommentaren. Als Ausnahmen im Sinne der Erwägung 2.3. könnten neue Gesetze, Gesetzesrevisionen oder Sparvorlagen vorstellbar sein.

Weiter so?

Wohlverstanden, hier geht es nicht um einen Wahrheitsanspruch, sondern um einen Diskussionsbeitrag zur Frage, wie grenzgängig sich die Politik verhalten darf oder soll. Alle sagen, man habe den Standort retten müssen und das sei gelungen. Das sei die Hauptsache. Aber es geht um mehr als das. Es geht um Verfassungsgrundsätze, es geht um den Schutz der direkten Demokratie und es geht auch darum, ob untergeordnete Vorlagen den übergeordneten Rahmen sprengen dürfen. Andere Schlussfolgerungen gehören selbstverständlich auch in die Diskussion. Aber sie sollten das Niveau opportunistischer Überlegungen schon übersteigen.

Interessant ist, dass sich sogar der Bundesrat bei der Lagebeurteilung letztlich auf Juristen stützte, wenn auch auf seine hauseigenen. Und diese mussten schon sehr kreativ argumentieren, um das Spiel nicht zu verderben. So hat das Bundesamt für Justiz hat in seinem Gutachten die Anwendbarkeit der Einheit der Materie auf Gesetzesverfahren bejaht, ist nach Abwägungen aber zum Schluss gekommen, just bei diesem Deal sei das Einheitsgebot noch gerade nicht verletzt genug. Also eine Amtsmeinung in eigener Sache, die gar nicht erst versteckt, dass es um einen Grenzfall geht. Weil es in der Schweiz (noch?) keine Bundesverfassungsgerichtsbarkeit gibt, wird die Verfassungsmässigkeit dieses Falls wohl unüberprüft bleiben.

Umso wichtiger ist, dass der vorliegende Fall nicht alle künftigen Mittel heiligt. Denn ziehen solche Würfe unreflektiert weitere Kreise, gerät die direkte Demokratie in gefährliche Gewässer. Womit wir bei der Angst der Politik vor dem Volk wären, die genau genommen eine Angst des Parlaments vor sich selber ist. Denn dort steckt der Wurm drin: Dem Parlament fehlt die Grösse, nötige Reformen ohne Griff in die Trickkiste zu verabschieden.

 

* Daniel Eckmann ist Jurist, KMES-Partner und Lehrbeauftragter für strategische Kommunikation an der Universität Bern.