Hoch zu Ross durchs Wahljahr

von Daniel Eckmann

Bald sind Wahlen. Man merkt es schon. Fast viertausend Frauen und Männer wollen einen Sitz im National- oder im Ständerat. Wer vorne sein will, muss sich bemerkbar machen. Das Zauberwort heisst Medienpräsenz. Egal ob Klima, Rahmenvertrag, AHV, Kampfjet oder Papizeit: sobald ein Mikrophon in der Nähe ist, sind alle Experten für alles. Kaum macht etwas Schlagzeilen, geht die parteipolitische Dreifelderwirtschaft los: zuerst Empörung, dann Suche nach Sündenb.cken und sobald sich die Aufregung legt, wechselt man Thema und stürzt sich auf den nächsten Hype. Oder wie Nietzsche sagte: «Alles gackert, aber niemand will Eier legen.» Wer dem so zuhört, wundert sich, dass die Schweiz überhaupt noch lebt. Zu den Lieblingsspielen von Politikern gehören Versprechen, die mit Geld bezahlt werden, das anderen gehört. Nur etwas geht in Wahljahren gar nicht: unpopuläre Lösungen. Sogar wenn sie bitter nötig sind. Lieber hält man das Problem warm und hantiert mit Vorwürfen. Entsetzt zu sein, ist die halbe Miete. Denn je länger man ein Malaise durch den Medienwald treiben kann, desto mehr gibt es her.

Ganz besonders wichtig im Wahlkampf ist der Bürgerkontakt. Man muss „zu den Leuten“ gehen, „an die Basis“. Das sagt schon alles. Denn wer so denkt, fühlt sich etwas Höherem zugehörig. Erklärbar ist das mit dem Lipizzaner-Effekt. Lipizzaner, das sind die berühmten Edelpferde der spanischen Hofreitschule: schneeweiss und wie von einer anderen Welt. Ihre Kunst verzückt das Publikum. Es ist die ganz grosse Schau der Pirouetten und Piaffen, des Pas de deux und der Galoppwechsel, der Levaden und der Kapriolen.

„Sie verlieren das Lächeln, versprechen das Blaue vom Himmel, verantworten wenig, verteilen viel, finden das toll und hängen so sehr am Amt, dass sie meinen, ohne es nichts mehr zu sein.“

Lipizzaner werden grauschwarz geboren. Zunächst ragt noch keiner heraus. Alle balgen sich mit den anderen Fohlen unter seinesgleichen auf ländlichen Wiesen. Einige bleiben dunkel, andere werden mit der Zeit heller oder sogar weiss. Einfach so, das liegt in der Natur der Lipizzaner. Und eines Tages werden ein paar von ihnen für die Hofburg ausgewählt. Wie Würfel halt so fallen. Und schon tollen sie nicht mehr mit ihresgleichen auf den Matten herum, sondern heben an zum spanischen Tanz. Der Sattel ist jetzt aus weissem Leder, das Zaumzeug aus Gold. Man liegt ihnen zu Hufen und haucht ehrfürchtig "Ah!" und "Oh!". Bei Lichte betrachtet sind sie zwar immer noch Rösser. Aber das haben sie längst vergessen.

Politikern geht es gleich. Zunächst sind sie normale Menschen. Doch dann schlägt ihre Stunde und sie werden an die Hofreitschule am Bundesplatz gewählt. Dort trimmt man sie auf Pirouetten und Piaffen. Sie tanzen Reigen und wissen bald nicht mehr, wie man aufrecht vorwärtsgeht. Wer erst von der eigenen Erscheinung beeindruckt ist, tut sich schwer daran, die gewöhnliche Alltagswelt noch einzublenden. Das Drum und Dran lässt sie glauben, dass sie etwas Besonderes seien. Die Weiden sind jetzt weit weg. Die Auserwählten haben sich ans Zaumzeug aus Gold gewöhnt. Man hat sie gelehrt, dem Publikum zu gefallen. Das können sie. Was sie hingegen verlernt haben, ist ein simpler Schritt zurück, um die Dinge aus etwas mehr Distanz zu sehen. Sie verlieren das Lächeln, versprechen das Blaue vom Himmel, verantworten wenig, verteilen viel, finden das toll und hängen so sehr am Amt, dass sie meinen, ohne es nichts mehr zu sein.

Bald sind Wahlen. Man wird uns von den Plakatwänden herab Piaffen und Galoppwechsel preisen. Wer kandidiert, sieht sich schon auf weissen Sätteln. Da ist rasch vergessen, auf was man im Parlament eigentlich wirklich sitzt: auf einem von zweihundertsechundvierzig Stühlen. Wieviel man sich auch darauf einbilden mag, ein Zweihundertsechsundvierzigstel ist nicht so viel. Und Pirouetten sind auch nicht das, was das Land im Innersten zusammenhält. Vielmehr sollte Politik Charaktersache sein, nicht Flunkerei. Es geht um die nächste Generation, nicht um die nächste Schlagzeile - um das Wohl, nicht um die Wahl. Lipizzaner in Ehren, aber in struben Zeiten sind mir Ackergäule lieber. Kaltblüter, die den Pflug auch dann durch Wind und Wetter ziehen, wenn gerade kein Kamerateam in Sicht ist.

 

* Daniel Eckmann ist Jurist, KMES-Partner und Lehrbeauftragter für strategische Kommunikation an der Universität Bern.