Panikreaktionen werden langfristig teuer

Überschnelle Reaktionen auf Krisen führen häufig gerade nicht zur Schadensbegrenzung, sondern langfristig zu einem höheren Schaden, vor allem betriebswirtschaftlich. Der Umgang von Nestlé mit seinem CEO, der nach einer Affäre sofort entlassen wurde, zeigt beispielhaft: Wer sich von der Öffentlichkeit – inklusive Medien – treiben lässt, gibt in der Krise die selbstbestimmte Führung auf und regiert nur noch.
Von HANS KLAUS
Wenig wird von der Öffentlichkeit mit mehr Leidenschaft aufgenommen, als die moralischen Verfehlungen der Mächtigen. Derartige Affären erlauben, wenn sie bekannt werden, den eigenen Voyeurismus zu befriedigen und sich gleichzeitig aber darüber zu erheben. Selbst würde man so etwas selbstverständlich nie tun, will aber jedes Detail wissen und genüsslich durchgehen. Auch die Medienberichterstattung ist von dieser lüsternen Mischung geprägt: Geheuchelte Empörung, selbstgerechte Abgrenzung – und die unverhohlene Freude, immer noch einen pikanten, eigentlich privaten Aspekt öffentlich enthüllen zu können.
In diesen Tagen traf es Laurent Freixe, seit einem Jahr CEO von Nestlé: Es wurde bekannt bzw. öffentlich lanciert, dass der verheiratete Top-Manager eine dreijährige Beziehung mit einer Marketingmitarbeiterin unterhielt, die selbst 20 Jahre im Unternehmen arbeitete. Freixe wurde umgehend entlassen. Zwar hatte er keine Straftat begangen, aber nach Ansicht des Verwaltungsrates «sowohl gegen den firmeneigenen Verhaltenskodex als auch gegen interne Regeln» verstossen. Der Tages-Anzeiger benannte ehrlicher, dass es vor allem ein Verstoss gegen den Zeitgeist war: Die sofortige Entlassung sei ein Zeichen des «Kulturwandel in Chefetagen», lobte er Nesté, ein «Symbol eines Umbruchs».
Affäre wird plötzlich zur Führungskrise
Wenn das Unternehmen damit gehofft hatte, einen schnellen Schlussstrich zu ziehen, hatte es sich jedoch geirrt. Denn als nächstes nahmen sich die moralischen Eiferer den Verwaltungsratspräsidenten vor, der nach den ersten Hinweisen viel zu lange gezögert habe. «Als Resultat ist der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern in eine Führungskrise geschlittert», meinte die NZZ am Sonntag. Auch die wirtschaftlichen Risiken rückten nun in den Blick: Freixe war 39 Jahre bei Nestlé, davon 16 als Mitglied der Geschäftsleitung mit früherer Verantwortung u.a. für das Europa- und Amerika-Geschäft. Der eilig präsentierte Nachfolger leitete zuletzt die Tochtermarke Nespresso und war zuvor u.a. Länderchef in Honduras.
Aus Sicht der Krisenkommunikation wurde hier der grösste Fehler in derartigen Fällen wiederholt: Ein hektischer Aktionismus in der Annahme, dass man in der heutigen Medienlandschaft – soziale Medien eingeschlossen – immer und schnellstmöglich reagieren müsse; ein vermeintlicher Entlastungsfreistoss irgendwo in die Tiefe des Spielfelds. Dabei sind die Beteiligten der breiteren Öffentlichkeit unbekannt, und die Medien werden sich schon bald auf den nächsten Skandal fokussieren. Dagegen steht die unternehmerische Realität: Nestlé will in den USA wachsen, wofür der überstürzt entlassene CEO der ausgewiesene Experte war. Zudem hatte er ein Programm zur Kostensenkung im Umfang von 2,5 Milliarden Fr. angestossen, dessen Zukunft nun ebenso unklar ist.
Langfristige Konsequenzen bedenken
Überschnelle Reaktionen auf Krisen führen häufig gerade nicht zur Schadensbegrenzung, sondern langfristig zu einem höheren Schaden, vor allem betriebswirtschaftlich. Und darauf wird, wenn die öffentliche Empörung sich wieder gelegt hat oder bereits weitergezogen ist, geachtet: Wie entwickeln sich Umsatz und Gewinn, wie der Aktienkurs? Plötzliche und zudem überraschende Entscheidungen (z. B. die Entlassung des CEO) gefährden das Vertrauen aller, auf die es wirklich ankommt: Kader und Mitarbeiter, Investoren und Kunden. Das heisst nicht, dass eine harte Entscheidung irgendwann nötig und auch richtig ist. Aber: Zuerst Ruhe hineinbringen, ordnen, überlegt entscheiden, dann kommunizieren.
Bei diesem Ansatz muss man eine begrenzte Zeit mit «schlechter Presse», internen Diskussionen und Kritik leben. Aber er erlaubt, Vorwürfe sachlich und nicht getrieben von äusserem Druck aufzuklären, einen geeigneten Nachfolger auszusuchen und einzuführen sowie danach die strategischen Planungen und operativen Projekte zu übergeben. So übernimmt der Nachfolger, wenn ein Wechsel wirklich unumgänglich ist, geordnete Verhältnisse und muss sich nicht schon vorab mit Zweifeln und voller Fragen ansehen lassen und rechtfertigen. Für die Öffentlichkeit, die Medien eingeschlossen, ist all das zu komplex und unspektakulär, für die Zukunft eines Unternehmens aber essentiell.