"Royale Gäste warten auf den Bus"

Wenn Attribute den Verlust von Sachkompetenz im Journalismus kaschieren

Der moderne Journalismus ist schneller getaktet denn je. Das ist unvermeidlich, dem digitalen Nutzungsverhalten geschuldet. Und doch beschleicht einen das Gefühl, Tempo und Unmittelbarkeit seien vielleicht doch nicht die wahren Trümpfe. Also wird die Recherche forciert, sogenannte Investigativ-Desks schiessen wie Pilze aus dem Boden. Fragt sich nur, wo eigentlich die Dossierkompetenz geblieben ist.

Es gibt zwei irritierende Entwicklungen im Journalismus: Die eine nennt sich «live» und verspricht Kraft des Begriffs ein Höchstmass an Authentizität und Unmittelbarkeit. Die andere trägt das schmückende Adjektiv «investigativ» und atmet Recherche, Durchdringung, Wahrheit und Aufdeckung.

Früher war's nicht besser, aber klarer

Sinnigerweise war die «live»-Berichterstattung über mehrere Jahrzehnte die Domäne der elektronischen Medien, von Radio und Fernsehen, weil der O-Ton über den Äther sofort an die Medienkonsumenten übermittelt werden konnte. Die detailreiche Ausleuchtung wiederum galt, weil stark mit der Gattung Text verbunden, eher als Kompetenz der Zeitungsredaktionen. Deren Journalisten:innen hatten Zeit und Platz, den Dingen akribisch auf den Grund zu gehen.

Innerhalb beider Genres wiederum gab es viel Platz für Zwischentöne; keine Zeitung, die nicht auch Kurzmeldungen abdruckte, kein TV- oder Radio-Beitrag, der nicht als Feature, als Dokumentation oder als Reportage für Tiefenschärfe sorgte.

Öfters dem Nullpunkt nahe

Tempi passati im Zeitalter des digitalen Hastens: Die Abdankungsfeier für die Queen im September 2022 – ein besonders absurdes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit – war selbst Leitmedien mit stolzer Printvergangenheit in ihrer Online-Berichterstattung einen «live»-Ticker Wert, auch wenn dieser journalistisch gegen null tendierte.

Das las sich dann so: 12.06 Uhr: Die Trauerfeier beginnt - 13.20 Uhr: «Slow, march!» Prozession durch London beginnt - 13.35 Uhr: Der Sarg passiert das historische Herz der Stadt - 14.25 Uhr: Der Sarg der Queen erreicht Wellington Arch - 15.14 Uhr: Tausende von Menschen säumen die Strassen - 15.32 Uhr: Royale Gäste warten auf den Bus - 16.03 Uhr: Königliche Familie gewährt Einblicke ins Familienalbum - 16.10 Uhr: Der königliche Leichenwagen ist nun auf dem «Long Walk» - 16.36 Uhr: Zehntausende von Besuchern säumen den Long Walk und lauschen den Dudelsack-Klängen - 17.09 Uhr: Der Sarg wird in die Kirche getragen - 17.18 Uhr: Der Sarg ist nun in der Kirche - 17.41 Uhr: Krone, Zepter und Reichsapfel vom Sarg zum Altar gebracht - 18.00 Uhr: Aussegnungszeremonie nun zu Ende.

Auf zum Galopp!

Umgekehrt spricht mit leicht erregtem Pathos die Moderatorin der abendlichen «prime-time»-Informationssendung des nationalen Rundfunks von einer «exklusiven» Rechercheleistung des hauseigenen Investigativdesks, als wäre die Tatsache, dass es ein solches gibt und braucht, mehr von Interesse als der eigentliche Scoop. Dieser erweist sich dann bei näherem Zuhören als reichlich banal. Bei Radio SRF besteht das Team aus knapp einem Dutzend Journalist:innen, die entweder neu eingestellt oder von Fachredaktionen abgeworben wurden.

Im Newsroom des längst digital getakteten Verlagshauses werden umgekehrt zum Live-Tickering auch gestandene Redaktor:innen mit langjähriger Dossierkompetenz verknurrt. So textet die ehemalige Korrespondentin für den Nahen Osten im Newsroom Kurzfutter, während die Studienabgängerin im Investigativteam (sic!) über die Bedeutung der Hamas für die palästinensische Sache nachforscht.

Den Konsumenten solcher Publizistik wird es so lange egal sein, wie sie die Relevanz und Substanz des Gebotenen nicht beurteilen können. Entscheidend soll sein, ob ein Thema verständlich und spannend erzählt wird und das Ganze «mediumsgerecht» aufbereitet ist – so jedenfalls wird es aus verschiedenen Redaktionen kolportiert.

Verunsichert durch den Publikumsgeschmack

Nun sind solche Verirrungen im Journalismus nicht wirklich neu – kaum ein anderer Berufszweig fühlt sich durch den vermuteten Publikumsgeschmack jeweils so rasch verunsichert. Neu aber ist die Verve, mit der Chefredaktionen – oder ist es vielmehr die Geschäftsleitung? – diese Transformation vorantreiben durch die Allokation der entsprechenden personellen, technischen und finanziellen Ressourcen. Das geht zunächst auf Kosten der fachspezifischen redaktionellen Leistungsfähigkeit.

Schmerzhaft erfahren mussten das zu Beginn der Pandemie 2020 all jene Redaktionen, die in erster Linie Generalisten beschäftigten und über Nacht mangels einschlägiger Kompetenzen für medizin-wissenschaftliche oder statistische Fragen auf die Fachkenntnisse der immer zahlreicheren Pandemie-Experten angewiesen waren. Ähnliches wiederholt sich derzeit im Krieg im Gaza-Streifen, wo auf beiden Seiten der Front alles dafür getan wird, die journalistische Berichterstattung entlang objektivierbarer Fakten zu beeinflussen, zu behindern oder gänzlich zu verunmöglichen. Wirksam dagegen halten können faktisch nur jene Medien, welche die entsprechenden Fachleute beschäftigen und diesen auch den entsprechenden Stellenwert einräumen.

Auf Kosten der Meinungsbildung

Der anhaltende Aderlass in vielen Redaktionen als Folge wirtschaftlicher Zwänge geht daher nicht nur mit einem Verlust an Stellenprozenten einher, sondern er beschädigt im Kern das Wesen des Journalismus’: Dem interessierten Publikum den Mehrwert zu bieten, sich selbst eine Meinung bilden zu können auch dann, wenn die Gemengelage sehr kompliziert ist. Daran ändern wird weder das schmückende Attribut «live» noch «investigativ», sondern «kompetent».

KMES Partner | Markus Spillmann