In welchem Land ist eigentlich die NZZ zu Hause?

In der bisher spannendsten Schweizer Politik-Woche des Jahres lesen wir auf der Frontseite des "Leitmediums" was? Einmal mehr Bekanntes zur deutschen Innenpolitik!

Es mag an der Hitze liegen, oder am Wohnort des Autors, oder an den zur Verfügung stehenden Fernsehsendern, oder aber daran, dass man das Relevante vor lauter Fernsicht nicht in der Nähe vermutet: Nach einer aus Schweizer Sicht nachrichtenmässig richtig spannenden Woche hat es die NZZ in der Samstagsausgabe vom 18. Juni 2022 geschafft, auf Seite eins einen Leitartikel über den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz zu publizieren. Er kommuniziere schlecht und sei in einer Krise. Das interessiert uns...- o.k. vielleicht. Relevanter wäre allerdings für die Leserinnen und Leser des Schweizer Leitmediums ein aktuelles Thema aus dem eigenen Land. Und davon hätte es dieser Woche zweifellos eine ganze Menge gegeben.

Die Kalenderwoche 24/2022 hatte es aus Schweizer Perspektive in sich. Da war einerseits die Sommersession der Eidgenössischen Räte, wo eine wichtige Debatte zur Rentenreform geführt wurde, die Hammer-Nachricht der SNB mit einer folgereichen Entscheidung bezüglich Leitzinserhöhung, die deutliche Ablehnung einer verordneten Verbilligung des Benzinpreises, ein Schweizer Luftraum für Stunden ohne Flugzeuge, eine beabsichtigte Zerschlagung der Stromkonzerne in der Schweiz und viele weitere für uns alle durchaus relevante Themen und Entscheidungen. Für die meisten Tagesmedien waren diese Themen auch gestern einen Leitartikel oder Hauptkommentar des Chefredaktors wert. Nicht so für die NZZ, welche eine Fernbeurteilung über den deutschen Kanzler publizierte. Nur: Dessen Leistungsausweis - bitte verzeihen Sie Herr Scholz - interessiert uns Eidgenössinnen und Eidgenossen diese Woche eher weniger.

Falsches Thema zum falschen Zeitpunkt

Die Worte eines Chefredaktors der NZZ haben oft Gewicht. Sie sind reflektierend bezüglich nationaler und internationaler Einschätzung und deshalb auch wichtig für die Gesellschaft. Wäre da nicht ein stakkatoartiges, nicht enden wollendes Bewerten der Arbeit der Deutschen Kanzlerinnen und Kanzler. Bereits im vergangenen Jahr waren diverse Leitartikel und Beiträge der NZZ der deutschen Politik gewidmet. Das ist gut. Die Politik und deren Protagonisten unseres Nachbarn Deutschland sind für die Schweiz wichtig. Doch bitte zur rechten Zeit und nicht gerade in einer der wohl politisch spannendsten Wochen des Jahres in der Schweizer Politik. Hier wurde die falsche Priorität bei der Themenwahl gesetzt.

Verpasste Chance

Im Beitrag wird die ungenügende Kommunikation des deutschen Kanzlers Scholz scharf kritisiert. Kritikwürdig ist jedoch mehr die Themenwahl der NZZ. Sie räumt den prägenden Ereignissen der Woche nicht den verdienten Platz ein. Das ist eine verpasste Chance.

KMES Partner | Hans Klaus